Learning Velocity Canvas - Agile Produktentwicklung in der Bildung
In meinen vier Jahren als Fachbereichsleiter in der Bildung habe ich eine schmerzhafte Erkenntnis gemacht: die traditionelle Art, wie Bildungsanbieter ihre Kurse entwickeln, ist fundamental zu langsam für die digitale Welt geworden. Während man monatelang an perfekten Curricula feilt, verändern sich die Anforderungen des Marktes so schnell, dass die Kurse oft schon veraltet sind, bevor sie überhaupt gelauncht werden.
Warum ist traditionelle Kursentwicklung zu langsam für die digitale Transformation?
Diese Erfahrung brachte mich zur Entwicklung des Learning Velocity Canvas - einem Framework, das die bewährten Prinzipien agiler Produktentwicklung auf die spezifischen Herausforderungen der Bildungsbranche überträgt. Als Product Owner weiß ich, dass die Antwort nicht darin liegt, noch mehr Zeit in die Planung zu investieren, sondern vielmehr darin, schneller zu lernen und zu iterieren.
Die vier Quadranten des Learning Velocity Canvas verstehen
Das Framework basiert auf vier wesentlichen Denkbereichen, die man systematisch durcharbeiten sollte, um von einer Kursidee zu einem markttauglichen Lernprodukt zu gelangen. Diese Quadranten sind nicht als starre Checkboxen zu verstehen, sondern als lebendige Denkräume, die man immer wieder besucht und verfeinert.




Quadrant 1: Learner Jobs-to-be-Done - Das wahre Warum verstehen
Der erste und wichtigste Schritt liegt darin, das wahre Bedürfnis der Zielgruppe zu verstehen. Hier geht es nicht um oberflächliche Wünsche wie "Python lernen" oder "digitale Kompetenzen aufbauen", sondern um die tieferliegenden Motivationen und Ziele.
Wenn man diesen Quadranten erarbeitet, stellt man sich vor, man führt ein Gespräch mit den idealen Lernenden. Was treibt die Person wirklich an? Vielleicht ist es die Angst vor dem Jobverlust durch Automatisierung, der Wunsch nach beruflicher Weiterentwicklung oder die Hoffnung, endlich das Gehalt zu bekommen, das sie verdient.
In meiner Erfahrung stellen wir oft fest, dass Lernende nicht primär Wissen erwerben wollen, sondern ein spezifisches Problem lösen oder ein konkretes Ziel erreichen möchten. Ein Teilnehmer unseres KI-Grundlagen-Kurses wollte beispielsweise nicht einfach nur "Künstliche Intelligenz verstehen", sondern "in sechs Monaten als KI-Consultant arbeiten können". Diese Unterscheidung ist fundamental für alles, was folgt.
Quadrant 2: Minimum Viable Curriculum - Der Kern des Lernens
Sobald man das wahre Bedürfnis verstanden hat, geht es darum, das absolute Minimum an Lerninhalten zu identifizieren, das zur Zielerreichung notwendig ist. Hier kommt das Pareto-Prinzip ins Spiel: Welche 20 Prozent der möglichen Inhalte werden 80 Prozent des gewünschten Ergebnisses liefern?
Diese Denkweise widerspricht dem traditionellen Ansatz vieler Bildungsanbieter, die dazu neigen, umfassende und vollständige Curricula zu erstellen. Stattdessen zwingt man sich dazu, radikal zu priorisieren. Was ist wirklich essenziell für den Erfolg der Lernenden?
Nehmen wir das Beispiel eines Data Science Kurses. Anstatt alle verfügbaren Python-Bibliotheken, statistischen Methoden und theoretischen Grundlagen zu behandeln, konzentriert man sich auf die relevanten Kernkompetenzen: Pandas für Datenmanipulation, Matplotlib für Visualisierung und grundlegende statistische Konzepte. Alles andere wird zu "Nice-to-have"-Inhalten, die man später hinzufügen kann, wenn sich die Kernkompetenzen bewährt haben. Damit hat man nicht nur einen schnellen und kompakten Kurs, sondern im Grunde auch direkt auch Themen für Aufbaukurse oder Zusatzmodule.
Quadrant 3: Learning Validation Metrics - Erfolg messbar machen
Der dritte Quadrant beschäftigt sich mit der Frage, wie man den Lernerfolg kontinuierlich messen und validieren kann. Hier geht es nicht um traditionelle Abschlussprüfungen in Form von Wissensabfragen, sondern um fortlaufende Validierung der Lernfortschritte in Echtzeit.
Man denkt an Metriken, die wirklich aussagekräftig sind: Kann die Lernende nach Modul drei tatsächlich eine einfache Datenanalyse durchführen? Wie lange braucht die Person dafür? Welche Fehler macht sie dabei? Diese praktischen Assessments geben wertvolle Einblicke in die Effektivität des Curriculums.
Besonders wichtig ist dabei die Messung der "Time-to-Competency" - also der Zeit, die Lernende benötigen, um eine bestimmte Fähigkeit zu erlangen. Diese Metrik hilft zu verstehen, ob das Curriculum effizient strukturiert ist oder ob es Bereiche gibt, die Lernende systematisch aufhalten.
Quadrant 4: Feedback Loops - Der Motor der kontinuierlichen Verbesserung
Der vierte Quadrant ist der Motor des gesamten Systems. Hier definiert man, wie kontinuierlich Feedback von Lernenden, aber auch von der Praxis erhalten und in Verbesserungen umgesetzt wird.
Man sollte regelmäßige Berührungspunkte mit Lernenden etablieren. Dies können regelmäßige Community-Check-ins sein, in denen man nicht nur den Lernfortschritt bespricht, sondern auch herausfindet, wo sie Schwierigkeiten haben oder welche Aspekte besonders hilfreich waren. Live-Sessions, in denen Lernende praktische Aufgaben lösen, während man zuschaut, geben unschätzbare Einblicke in die Realität des Lernprozesses.
Genauso wichtig ist das Feedback aus der Praxis. Gespräche mit Arbeitgebern, die die Absolventen und erfolgreiche Teilnehmenden einstellen, sind wertvoll. Welche Fähigkeiten sind wirklich relevant? Wo gibt es Lücken zwischen dem, was vermittelt wird, und dem, was in der Praxis gebraucht wird?
Die praktische Erarbeitung des Canvas
Wenn man den eigenen Learning Velocity Canvas erstellt, beginnt man nicht mit leeren Feldern, sondern mit Annahmen. Man füllt jeden Quadranten mit den besten Vermutungen aus - basierend auf der eigenen Erfahrung und dem Verständnis des Marktes. Der Schlüssel liegt darin, diese Annahmen schnell zu testen und zu verfeinern. Dazu müssen natürlich Bedingungen für Testszenarien gegeben sein, wie z.B. Zugriff auf Testpersonen. Etwa ein Lernenden-Beirat oder ein Test-Panel, das bei Entwicklungen und Fragen hinzugezogen werden darf. Ein anderer Weg können Studien und Branchenanalysen sein, die Erkenntnisse und Bedürfnisse von bestimmten Zielgruppen verraten.
Man startet also mit einem kleinen Pilotprojekt. Man entwickelt eine erste Version des Minimum Viable Curriculums (MVC) und testet es mit einer kleinen Gruppe von Lernenden. Diese Gruppe wird zu den wertvollsten Partnern in der Produktentwicklung, da sie direktes Feedback aus erster Hand geben kann.
Während des Pilotprojekts sammelt man kontinuierlich Daten zu den definierten Metriken. Wie entwickeln sich die Lernenden? Wo haken sie? Welche Teile des Curriculums sind besonders effektiv? Diese Erkenntnisse fließen direkt in die nächste Iteration ein.
Von der Theorie zur Praxis: Ein konkretes Beispiel
In unserem Fachbereich haben wir diesen Ansatz bei der Entwicklung eines Kurses zu Agile Grundlagen angewandt. Statt ein Jahr in die Entwicklung eines umfassenden Curriculums zu investieren, haben wir mit der Kernfrage begonnen: Was wollen unsere Lernenden wirklich erreichen?
Die Antwort war nicht "Agile Methoden verstehen", sondern "in meinem Unternehmen erfolgreiche agile Projekte leiten können". Daraus entwickelten wir ein Minimum Viable Curriculum, das sich auf die praktischen Aspekte von Scrum und Kanban konzentrierte, ergänzt durch echte Fallstudien und praktische Übungen.
Das Ergebnis war beeindruckend: Von der ersten Idee bis zum Launch vergingen nur wenige Wochen. Die Completion-Rate und Weiterempfehlungsquote lagen jeweils über dem Durchschnitt des restlichen Kursangebots. Noch wichtiger: Die Lernenden berichteten, dass sie die erlernten Fähigkeiten unmittelbar in ihrem Beruf anwenden konnten.
Der Paradigmenwechsel: Von perfekt zu iterativ
Mit der Learning Velocity Canvas starteten wir einen fundamentalen Paradigmenwechsel in der Produktentwicklung für die Erwachsenen-Weiterbildung. Statt zu versuchen, von Anfang an perfekte Kurse zu erstellen, akzeptieren wir, dass Lernen ein iterativer Prozess ist - sowohl für unsere Lernenden als auch für uns als Bildungsanbieter.
Dieser Ansatz erfordert Mut zur Unvollkommenheit und die Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen. Es bedeutet, dass man Kurse launcht, bevor sie sich "vollständig" anfühlen, und dass man kontinuierlich basierend auf realem Feedback verbessert.
Die Belohnung für diese Herangehensweise ist eine deutlich höhere Marktrelevanz Ihrer Bildungsangebote und eine kürzere Time-to-Market, die in der schnelllebigen digitalen Welt entscheidend ist. Mehr noch: man entwickelt eine Kultur der kontinuierlichen Verbesserung, die ein gesamtes Unternehmen transformiert.
Erste Schritte für das eigene Framework
Wenn man den Learning Velocity Canvas in der eigenen Organisation implementieren möchte, empfiehlt es sich, klein anzufangen. Man wählt ein Pilotprojekt aus, das wichtig genug ist, um Aufmerksamkeit zu bekommen, aber nicht so kritisch, dass ein Scheitern das Unternehmen gefährdet.
Man beginnt beispielsweise mit einem halb- oder ganztägigen Workshop, in dem man gemeinsam mit dem Team die vier Quadranten für das Pilotprojekt erarbeitet. Dabei fokussiert man sich auf konkrete, messbare Ergebnisse und vermeidet abstrakte Formulierungen.
Man plant von Anfang an kurze Iterationszyklen ein. Zwei bis drei Wochen für die erste Version, gefolgt von wöchentlichen Verbesserungsrunden basierend auf Lernenden-Feedback. Diese Geschwindigkeit mag am Anfang ungewohnt sein, aber sie ist der Schlüssel zum Erfolg des gesamten Ansatzes.
Der Learning Velocity Canvas ist mehr als nur ein Framework - er ist eine neue Art, über Bildung zu denken. Eine Art, die Lernende in den Mittelpunkt stellt und die Geschwindigkeit des Lernens über die Perfektion der Inhalte stellt. In einer Welt, die sich immer schneller verändert, ist diese Denkweise nicht nur hilfreich, sondern essenziell für den Erfolg moderner Bildungsanbieter.